"Was kann der Staat? Lektionen aus der Pandemie"
15. November 2021
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellte eine zentrale Frage unserer Zeit in den Fokus des 12. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: Welche Lehren können und müssen Staat und Gesellschaft aus der Pandemie ziehen?
Dass die Veranstaltung mitten in die vierte Welle der Pandemie fiel, verlieh ihr besondere Aktualität. Der Bundespräsident richtete zu Beginn seiner Rede einen eindringlichen Appell an die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland:
"Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden uns alle. (…) Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie sich impfen! Es geht um Ihre Gesundheit, und es geht um die Zukunft unseres Landes!" An die noch immer Zögernden richtete er angesichts der sich zuspitzenden Situation die Frage: "Was muss eigentlich noch geschehen, um Sie zu überzeugen?"
Der Bundespräsident richtete den Fokus aber auch auf die grundsätzliche Notwendigkeit, der Pandemie zu begegnen und Lehren aus ihr zu ziehen. Die Pandemie habe klar gemacht, dass "wir unsere Verwaltung dringend auf die Höhe der Zeit bringen müssen – unser Staat muss handlungsfähiger, beweglicher, innovationsoffener werden". Im weiteren Verlauf unterstich er insbesondere die Freiheit der Wissenschaft und auch die Eigenständigkeit der politischen Sphäre, das demokratische Zusammenspiel von legislativer Legitimation und exekutiver Handlungsfähigkeit sowie die – allgemein anerkennte – Notwendigkeit einer Modernisierung von Staat und Verwaltung im Lichte der Herausforderungen.
Zur anschließenden Debatte hatte der Bundespräsident drei Gäste geladen: Die Medizinethikerin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, die Rechtswissenschaftlerin Laura Münkler und die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Aminata Touré.
Die zentralen Fragen der Debatte: In welchen Bereichen sollten Demokratie und Staat Konsequenzen ziehen? Was hindert daran, dass erworbene "Krisenwissen" in institutionelles Handeln zu überführen? Wie können Staat und Politik künftig mit wissenschaftlicher Expertise umgehen und wie kann diese in demokratische Prozesse einbezogen werden?
"Unser Krisengedächtnis ist ein Kurzeitgedächtnis"
In seiner Eingangsrede beschrieb der Bundespräsident unser Krisengedächtnis als Kurzeitgedächtnis. Dabei sei es entscheidend, "dass wir aus der Pandemie lernen und unseren demokratischen Staat so weiterentwickeln, dass er auf die großen Herausforderungen der Zukunft noch kraftvoller reagieren kann, gerade weil er auf Freiheit und Gleichheit setzt, auch in schwierigen Zeiten". Er konstatierte: "Das Ringen zwischen Exekutive und Legislative, Bund und Ländern; der öffentliche Streit um Einschränkungen und Lockerungen; auch Pannen beim Testen und Impfen - all das hat das Vertrauen in Staat und Demokratie auf die Probe gestellt." In der Demokratie sei dies ein kritisches Vertrauen, das auf Skepsis und eigener Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger beruhe.
Neben den Stärken, die unsere Demokratie unzweifelhaft habe, hätte die Corona-Pandemie aber auch deutliche Schwächen "wie unter einem Brennglas" offenbart: Dazu gehörten "Defizite bei Vorsorge und Vorausschau, Rückstände bei der Digitalisierung und hakende Abläufe im Geflecht unterschiedlicher Institutionen".
Das Verhältnis von Wissenschaftsberatung und Politik
Ein Thema, das auch später in der Debatte immer wieder in den Fokus genommen wurde, war das Verhältnis zwischen Wissenschaftsberatung und Politik. Wer glaubte, dass Wissenschaft eindeutige politische Handlungsempfehlung für Politik und Gesellschaft liefere, sei enttäuscht worden. Vielmehr müsse die Wissenschaft in der Vielzahl ihrer Disziplinen, Fragestellungen und Methoden, als nie abgeschlossener Lernprozess verstanden werden. "Wo Politik sich hinter Wissenschaft versteckt", so Steinmeier wörtlich, "(..) wo Politiker und Wissenschaftler sich gegenseitig benutzen, um ihre Ziele durchzusetzen, da schwächen sie das Vertrauen in Wissenschaft und Demokratie".
Hierzu stellte Laura Münkler in der Debatte aus rechtwissenschaftlicher Perspektive ihre Ansicht dar. Sie bezweifelte, dass man in einer Demokratie das Verhältnis zwischen Expertise und Politik perfekt austarieren könne. Es bliebe immer ambivalent, auch wenn es Parallelen gebe. Das Problem läge in der Besonderheit von Expertise, so Münkler, weil sie mehr sei als eine Meinung unter anderen, aber auch weniger als Wahrheit oder Objektivität. Selbstverständlich müsse man auf Experten hören, dabei aber gleichzeitig eine demokratische Entscheidung treffen.
Laut Laura Münkler müsse sich Politik zwar von Expertinnen und Experten offen und nachvollziehbar beraten lassen, am Ende aber bereit sein, die politische Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen. Diesen Ausführungen schloss sich die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Aminata Touré, an, indem sie vor Verantwortungsdiffusion in der Politik warnte und auf die Transparenz von Aushandlungsprozessen betonte.
Forderung nach einem institutionalisierten Krisenstab
In der Debatte wurde deutlich, dass Laura Münkler und Alena Buyx einem ad hoc-besetzten Gremium, zum Beispiel in Form eines "Pandemie-Rats", skeptisch gegenüberstehen. Buyx riet stattdessen zu einem permanenten, plural besetzten, übergreifend arbeitenden Krisenstab. Alena Buyx attestierte der deutschen Gesellschaft ein Missverhältnis bei der tatsächlichen und der wahrgenommenen Leistung. Die Bürgerinnen und Bürger leisteten weit mehr bei der Bekämpfung der Pandemie, als ihnen oft bewusst sei. Dies habe auch einen unmittelbaren Effekt auf das Vertrauen in die Institutionen. Sie unterstrich zudem ihre Auffassung, dass es kein Erkenntnisproblem gebe, sondern vielmehr ein Umsetzungsproblem. Das Bedürfnis nach mehr Vorausschau verstärke dabei ein Gefühl von Machtlosigkeit. Sie sprach sich dafür aus, eine stärkere, kontinuierliche Vorausschau in Form von wissenschaftlicher Politikberatung auszubauen und zu institutionalisieren, um künftig auch bei sich exponentiell entwickelnden Krisensituationen besser gerüstet zu sein.
Das Zusammenspiel von Bund und Ländern
Bundespräsident Steinmeier machte in seiner Rede deutlich, dass er sich eine lebhafte Diskussion über die Stärken und Schwächen unserer föderalen Republik in solchen Krisenzeiten wünsche. Sollte die Entscheidungshoheit in Abhängigkeit des jeweiligen Infektionsgeschehens stärker in den Ländern und Kommunen bleiben oder können bundesweit einheitliche Regelungen für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen?
Vor dem Hintergrund der anstehenden Konferenz der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten fragte er hierzu in der Debatte Aminata Touré, ob sie mit Blick auf die vergangenen Krisenmonate von einem "Durchregieren" der Exekutive sprechen würde. Aminata Touré hob hervor, dass man bewusst der Exekutive viel Spielraum gegeben und sich gleichzeitig interdisziplinär mit Expertinnen und Experten in Landtagsausschüssen beraten habe. Ihrer Auffassung nach hätten sich die Parlamente in der Zeit der regelmäßigen Ministerpräsidentenkonferenzen allerdings eher "verzwergt".
Modernisierung des Staates
Der Bundespräsident forderte, dass die Verwaltungen von Bund und Ländern handlungsfähiger und innovationsbereiter werden müssten. Dies gelte insbesondere für den digitalen Rückstand in den Behörden, an Schulen und im Gesundheitssystem. Nach den Lehren für die Zukunft befragt, schloss sich Alena Buyx dem Bundespräsidenten an und wünschte sich eine stärkere Handlungsfähigkeit von Staat und Verwaltung durch das Lichten des Regelungsdickichts und besonders das Abschaffen von zum Teil widersprüchlichen Gesetzen und Verordnungen insbesondere im Digital-Bereich.
Bundespräsident hielt in seinem Resümee eine doppelte Aufgabe fest: Zum einen gehe es um die Gewährleistung einer besseren Vorsorge, zum anderen dürfe dies nicht zu einer überzogenen Erwartung an die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Entwicklungen führen.