"Aus der Krise in die Zukunft - Wie gelingt Transformation gemeinsam?"
24. November 2020
Wie kann es uns als Gesellschaft gelingen, die grundlegenden Veränderungen für die Zukunft – die nachhaltige Transformation – demokratisch zu gestalten? Welche demokratischen Prozesse und Institutionen sind für eine gelingende Transformation notwendig? Welche Akteure sind entscheidend?
Der Bundespräsident diskutierte darüber beim zehnten "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" mit Maja Göpel (Politökonomin und Wissenschaftliche Direktorin The New Institute), Udo Di Fabio (Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht), Thea Dorn (Schriftstellerin) und dem aus Wien zugeschalteten Wolfgang Merkel (Politikwissenschaftler und Professor für Politikwissenschaft am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung). Mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage in Deutschland musste die Diskussion im Großen Saal von Schloss Bellevue ohne Publikum stattfinden und wurde live gestreamt.
Der Bundespräsident stellte gleich zu Beginn fest, dass das Virus bisher nicht zu einer Spaltung der deutschen Gesellschaft geführt habe. Im Gegenteil: Der gemeinsame Kampf gegen Corona habe bislang das Vertrauen in die demokratischen Institutionen gestärkt. "Wir haben zwischendurch sogar erlebt, dass der Kampf gegen Corona die Demokratie, den Zusammenhalt stärken kann. Und das ist eine Erfahrung, die kann uns auch Mut machen, Zuversicht geben für die kommenden Wochen. " Es dürfe nicht zugelassen werden, dass das Virus die Gesellschaft zukünftig spaltet. Vielmehr gelte es, "dass Junge und Alte, Gefährdete und weniger Gefährdete zusammenstehen, in der Krise, aber auch in der Zeit danach." Corona sei und bleibe in diesem Herbst und Winter "eine große, eine tödliche Gefahr", so der Bundespräsident. "Wir alle müssen diese Gefahr weiterhin ernst, wir müssen sie sehr ernst nehmen."
Darüber hinaus gelte es, "die anderen großen Aufgaben der Menschheit nicht aus den Augen zu verlieren ", so der Bundespräsident. Der Kampf gegen die Erderwärmung sei die größte Herausforderung unserer Zeit. Und es gebe auch hier die Möglichkeit, aus der aktuellen Krise zu lernen: "Wir sollten uns fragen, was wir heute verändern müssen, um in eine bessere Zukunft aufzubrechen."
"Das Ziel einer klimaneutralen Welt ist beschlossen, aber ist es wirklich schon fest in unserer Zukunft verankert?", fragte Bundespräsident Steinmeier. "Bei vielen Menschen in unserem Land ist das Bewusstsein längst gewachsen, dass wir umdenken, umsteuern, auch radikal umsteuern müssen, um die Kurve der Klimaerwärmung abzuflachen. Flatten the curve, haben wir in der Pandemie gelernt, (…) und zwar nicht später, sondern so früh wie möglich, jetzt." Der Aufbruch in eine klimaneutrale Zukunft könne allerdings nur gelingen, wenn die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit einbezogen würde: "Der Handlungsdruck in der Klimakrise macht demokratische Verständigung und Beteiligung nicht unwichtiger, sondern eher wichtiger."
In diesem Zusammenhang sprach Bundespräsident Steinmeier von einer Zeit der Transformation, die von ihrer Bedeutung und ihrem Ausmaß her vergleichbar sei mit der neolithischen oder Industriellen Revolution. "Aus der Geschichte wissen wir", so Steinmeier, "dass solche Veränderungsprozesse Gesellschaften unter Druck setzen, dass sie tiefe Gräben aufreißen können."
Deshalb müsse die Klimapolitik drei Aspekte berücksichtigen: Erstens müsse sie auf einer demokratischen Verständigung beruhen, an der die Bürgerinnen und Bürger beteiligt sind; zweitens müsse sie so gestaltet werden, dass die Belastungen und Chancen fair verteilt werden; und drittens gelte es, sie global zu gestalten, den Planeten im Blick zu behalten.
Der Diskussion stellte Bundespräsident Steinmeier voran, man wolle hier sicher nicht diskutieren, ob es einen Klimawandel gibt und auch keine einzelnen Maßnahmen. Vielmehr läge ihm daran zu erörtern, wie die unbestreitbar erforderlichen Veränderungen zur Bekämpfung des Klimawandels in einer Demokratie zu gestalten sind, wie sie gelingen können und welche Rolle in einer solchen Transformationssituation die demokratischen Institutionen und die Öffentlichkeit spielen.
Auf die Frage an die Politikökonomin Maja Göpel, ob mit Blick auf die Klimakrise ein Erkenntnisproblem bestünde, antwortete die Transformationsforscherin, dass sie durchaus den Eindruck habe, dass von vielen das Ausmaß der Erderwärmung noch nicht erkannt würde. Sie forderte daher aufgeklärte, lernende Gesellschaften, die Konsequenzen als kollektive Antworten formulieren.
Maja Göpel gab zu bedenken, dass wir mit den bisherigen Beschlüssen und Maßnahmen weit hinter dem zurückblieben, was die Transformationsforschung für möglich erachte, und zeigte Verständnis dafür, dass Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen dringenden Handlungsbedarf anmahnten. Aus ihrer Sicht stelle sich vielmehr die Frage, wie demokratische Prozesse neu organisiert werden könnten, damit das "beste Wissen und Gewissen" pluralistisch zusammenfindet und eine Verbindlichkeit entwickelt, ähnlich wie es in europäischen Ländern in Bürgerräten bereits geschehe.
"Die Demokratie ist die zivilisatorische Antwort auf das Wachsen der Vernunft"
Der Staatsrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio ging zunächst auf die Erwartungen der Bürger an die demokratischen Institutionen bei der Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen ein. Ein Erkenntnisproblem gebe es weniger mit Blick auf die Ursachen von Krisen, sondern vor allem mit Blick auf die Wirkungen von Maßnahmen zu deren Bekämpfung. Genau diese müssten in einer Demokratie gesellschaftlich verhandelt werden: "Wir brauchen eine repräsentative Demokratie, die diskutiert, die deliberativ ist, die zu Lösungen kommt, die dann auch von einer Mehrheit der Gesellschaft getragen werden und von der Minderheit in der Einsicht, dass die Mehrheit so entschieden hat." Die Demokratie sei die "eigentliche zivilisatorische Antwort auf das Wachsen der Vernunft" und deshalb "alternativlos". Im Vergleich zu den angelsächsischen, agonalen Demokratien sei die deutsche Demokratie von einer "Konsens-Sehnsucht" getrieben, die oftmals Konflikte zudecke. Manchmal müsse man aber daran erinnern, dass es zu einer pluralistischen Gesellschaft gehöre, antagonistische Interessen zuzulassen und nicht im Angesicht solcher globalen Herausforderungen im Gut-Böse-Mechanismus wegzudiskutieren.
Vertrauen in der Demokratie darf keine Einbahnstraße sein
Zu Recht erwarte die Politik, dass die Bevölkerung ihr vertraue, so die Schriftstellerin Thea Dorn; allerdings müsse die Politik auch den Bürgern vertrauen. Im Angesicht so großer Herausforderungen wie der Pandemie, aber auch des Klimawandels, sprach sie von einer Abwärtsspirale des Vertrauens auf beiden Seiten: der Politik und der Bürgerinnen und Bürger. Die "Gretchenfrage" der Demokratie ist für Thea Dorn der Glaube daran, dass "die Demokratie uns klüger macht". Oder die Gesellschaft überlasse das Feld des Erkenntnisgewinns – auch aufgrund der Komplexität der Themen – Technokraten und Wissenschaftlern. Nach Thea Dorns Auffassung bedeutet Demokratie also vor allem die Bereitschaft zum offenen Streitgespräch, einem offenen Diskurs zu den effizientesten Maßnahmen. Entscheidend dabei sei, wie mit den wechselseitigen Ängsten umgegangen würde: Wie schaffen wir es, uns von den eigenen Ängsten nicht als "Geisel nehmen" zu lassen? Wie begegnen wir den Ängsten des anderen mit "offenen Herzen"?
Transformation geht mit großer Unsicherheit der Menschen einher
Der Transformationsforscher Wolfgang Merkel bestätigte, dass Transformation stets mit besonderer Unsicherheit in der Zeit des Übergangs, in der "Zwischenzeit" einhergehe. Unsicherheit wiederum sei eines der großen Probleme für eine Demokratie. Tief verunsicherte Menschen hätten eine Affinität zu autoritären Lösungen. In solchen Transformationsperioden zahle zudem im Falle einer fehlerhaften Gestaltung das untere Drittel – wenn nicht sogar die untere Hälfte – der Gesellschaft den Preis für die Neuschaffung von Verhältnissen, argumentierte der aus Wien zugeschaltete Wissenschaftler. Aus seiner Sicht komme es daher auf den demokratischen Input an – es sei ein Fehler, die Demokratie primär von ihrem Output her zu denken: "Wenn das geschieht, begeben wir uns auf die schiefe Ebene hin zu stärker autoritären Regierungsmechanismen."
Der Bundespräsident machte am Ende noch einmal deutlich: Eine Demokratie lebt vom Streit. Gerade in der aktuellen Phase der Pandemie nehme er eine intensive Debatte auf allen Ebenen wahr. Das Meinungsspektrum habe sich in den vergangenen Monaten seiner Wahrnehmung nach sogar erweitert. Er ermutigte ausdrücklich dazu, die Fragen zur Zukunft der Demokratie weiter aktiv in der breiten Öffentlichkeit zu diskutieren.