"Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe"
23. Mai 2018
Warum ist die Politik, vor allem das politische Amt, warum ist "das Politische" bei manchen so in Verruf geraten und wie können wir Menschen wieder für aktives, politisches Engagement begeistern? Über diese Fragen diskutierte Bundespräsident Steinmeier auf dem vierten "Forum Bellevue" mit Wissenschaftlern und Aktivisten.
"Es ist etwas ins Rutschen geraten", konstatierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn seiner Eröffnungsrede und setzte damit sogleich einen wichtigen Akzent für die folgende Diskussion. Für die vierte Ausgabe der Diskussionsreihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" hatte der Bundespräsident nicht nur ein grundlegendes Thema, sondern auch ein besonderes Datum gewählt: Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Genau 69 Jahre später diskutierte der Bundespräsident mit der italienischen Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta, dem belgischen Historiker und Gründer der Bürgerplattform "G1000", David Van Reybrouck, und dem deutschen Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosophen Christoph Möllers über die Frage, warum die Demokratie sich mehr als zuvor bewähren muss und was gegen die Anfechtungen der demokratischen Ordnung getan werden kann.
Passend zum Tag des Grundgesetzes wies der Bundespräsident zu Beginn darauf hin, dass die verfassungsmäßige Ordnung Grundlage für eine funktionierende Demokratie sei, lebendig werde das demokratische Gemeinwesen vor allem aber durch "Demokratinnen und Demokraten, so Steinmeier. Es brauche Menschen, die bereit seien, sich zu engagieren, die den anderen als Gleichen respektieren und das eigene Interesse nicht absolut setzen. Das setze laut Steinmeier auch "ein Interesse am Gemeinwesen und den Mut zum Kompromiss voraus."23. Mai 2018
Warum ist die Politik, vor allem das politische Amt, warum ist "das Politische" bei manchen so in Verruf geraten und wie können wir Menschen wieder für aktives, politisches Engagement begeistern? Über diese Fragen diskutierte Bundespräsident Steinmeier auf dem vierten "Forum Bellevue" mit Wissenschaftlern und Aktivisten.
"Es ist etwas ins Rutschen geraten", konstatierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn seiner Eröffnungsrede und setzte damit sogleich einen wichtigen Akzent für die folgende Diskussion. Für die vierte Ausgabe der Diskussionsreihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" hatte der Bundespräsident nicht nur ein grundlegendes Thema, sondern auch ein besonderes Datum gewählt: Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Genau 69 Jahre später diskutierte der Bundespräsident mit der italienischen Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta, dem belgischen Historiker und Gründer der Bürgerplattform "G1000", David Van Reybrouck, und dem deutschen Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosophen Christoph Möllers über die Frage, warum die Demokratie sich mehr als zuvor bewähren muss und was gegen die Anfechtungen der demokratischen Ordnung getan werden kann.
Passend zum Tag des Grundgesetzes wies der Bundespräsident zu Beginn darauf hin, dass die verfassungsmäßige Ordnung Grundlage für eine funktionierende Demokratie sei, lebendig werde das demokratische Gemeinwesen vor allem aber durch "Demokratinnen und Demokraten, so Steinmeier. Es brauche Menschen, die bereit seien, sich zu engagieren, die den anderen als Gleichen respektieren und das eigene Interesse nicht absolut setzen. Das setze laut Steinmeier auch "ein Interesse am Gemeinwesen und den Mut zum Kompromiss voraus."
Können Losverfahren die Demokratie retten?
Genau an dieser Kompromissfähigkeit mangele es momentan jedoch gewaltig, konstatierte der Historiker Van Reybrouck, der sich in seinen Schriften unter anderem für eine stärkere Bürgerbeteiligung und zusätzliche Beteiligungsformen einsetzt. "Eine Regierung zu bilden, ist heutzutage so schwierig wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr", analysierte er. Die Regierungsbildung werde mittlerweile durch das Gewicht und die Angst der Politiker vor den folgenden Wahlen nahezu erdrückt, so Van Reybrouck. Das führe dazu, dass viele Politiker unfähig zur Kompromissbildung seien. Eine Lösung, sowohl für die Kompromissfindung, als auch, um die wachsende Distanz zwischen Regierungen und Regierten zu überbrücken, sieht er in der Stärkung von sogenannten Bürgerdialogen und neuen Beteiligungsformaten. Er verwies dafür auf erfolgreiche Modellprojekte in Danzig, Madrid oder Toronto, aber auch auf einen Volksentscheid zu einem Entwurf für ein neues Abtreibungsgesetz in Irland: "Politiker haben sich, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht getraut, dieses hochmoralische und emotional aufgeladene Thema zu einer Entscheidung zu führen", so Van Reybrouck. Doch mithilfe von per Losentscheid ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die zum Thema mit Experten mehre Monate beraten und getagt haben, wurde nun ein Entwurf über das Parlament zur Volksabstimmung vorgelegt. Ein Prozess, der laut Van Reybrouck unter üblichen parlamentarischen Bedingungen bei einem so polarisierenden Thema wahrscheinlich nicht zum Erfolg geführt hätte. In den Parlamenten vermisse er die "Geräusche der Demokratie": das Diskutieren und Debattieren.
Dass ein erhöhter Geräuschpegel nicht automatisch ein Ausweis von mehr Demokratie sei, warf Bundespräsident Steinmeier ein und verwies auf die Zunahme an Konfliktlinien und auch die emotionale Intensität mit der, gerade in digitalen Räumen, Debatten eher ausgekämpft statt geführt würden.. Überall dort, wo ein ‚ja‘ oder ‚nein‘ zur Auswahl stehe, steige auch die Beteiligungsfreude. Aber überall dort, wo demokratische Basisarbeit gefragt ist, in den Kommunen und Gemeinden, dort sinke die Bereitschaft zum konkreten kommunal- und parteipolitischen Engagement.. Ob die klassischen, gewohnten parlamentarischen Entscheidungswege und die parteipolitischen Strukturen die Ursache für das sinkende politische Engagement sind, darüber wurde auf dem Podium kontrovers diskutiert. Einig waren sich die Diskutanten jedoch über den Befund, dass demokratische Institutionen einen Anpassungsprozess durchlaufen müssten, um die Distanz zwischen Volk und Parteien zu verringern. Christoph Möllers sprach in diesem Zusammenhang von einer gefährlichen "wohlwollenden Gleichgültigkeit": "Wenn sich zu viele Menschen auf das politische System verlassen, ohne es zu unterstützen, weil es immer funktioniert hat, dann ist das einerseits ein Erfolg des bisherigen politischen Systems, aber auch gefährlich für unsere demokratische Zukunft", so Möllers. Zutage trete dies, wenn das bewährte System in die Krise gerate. Laut Möllers befinden sich die westlichen Demokratien in einer Phase der Veränderung: Weg von klassischen, organisierten Parteistrukturen, hin zu politischen Bewegungen, die gerade für jüngere Menschen zeitgemäßer und attraktiver erscheinen.
Die Entstehung von neuen politischen Bewegungen bewertete Donatella della Porta als dem Grunde nach positiv. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft sei auch eine Folge der vielfachen gesellschaftlichen Konfliktlinien, die entstanden seien. "Neue politische Bewegungen können zunächst auch wichtige Impulse und Anregungen für bestehende Parteien geben", so della Porta. Dazu gehöre auch, dass der Begriff des "Politischen" heutzutage deutlich weiter gefasst werden müsse. Politik bedeute vor allem auch mehr als nur Parlamentsdebatten und Wählengehen.
Verunsicherung in Zeiten des Wohlstandes: Warum nehmen Ängste zu?
Wie sich das Paradox erklären lasse, dass viele der neuen Protestbewegungen gerade in einer Zeit entstehen, in der die Wohlstandskurve, zumindest in Deutschland, nach oben zeige, wollte der Bundespräsident am Ende der Diskussion von seinen Gästen erfahren. Christoph Möllers betonte die Notwendigkeit einer neuen demokratischen Perspektive, eines Versprechens für die Zukunft. "Demokratie muss immer nach vorn gehen. Wenn ein solches zukunftsweisende Angebot nicht zur Verfügung stehe, könnten sich die Bürger abwenden." David Van Reybrouck sprach vom permanenten "Zwang zur Erneuerung": Viele Bereiche der modernen Gesellschaft hätten sich demokratisiert: die Bildung, die Kommunikation die Verbreitung von Informationen. Insofern müsse sich auch die Demokratie selbst demokratisieren und die Bürger stärker einbeziehen. Diese Notwendigkeit zum permanenten Innovationsprozess habe auch schon der italienische Schriftsteller Guiseppe Tomasie di Lampedusa, erkannt, der in seinem weltbekannten Roman "Der Gattopardo" sinngemäß notierte: ‘Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich ändert.‘