Symposium "Zur Zukunft der Demokratie - Wie stärken wir die Republik?"
11. März 2022
"Demokratien müssen wehrhaft sein"
Wie lässt sich eine republikanische Haltung in der Gesellschaft fördern? Was kann und muss getan werden, um die liberalen Demokratien nach innen und außen zu stärken? Das waren die zentralen Fragen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während des Symposiums "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie - Wie stärken wir die Republik?" zum Abschluss seiner ersten Amtszeit mit Gästen im Schloss Bellevue diskutierte. Besondere Aktualität hatten diese Fragen angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine.
Im Mittelpunkt stand eine Bilanz der seit 2017 regelmäßig in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung stattfindenden Reihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie", zu der der Bundespräsident internationale und nationale Podiumsgäste aus Wissenschaft, Kultur und Medien der zwölf vorangegangenen Veranstaltungen erneut eingeladen hatte. Ehrengast war der Bundespräsident der Republik Österreich Alexander Van der Bellen.
"Wie stärken wir die Republik?"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich in seiner Eingangsrede tief betroffen von dem russischen Angriff auf die Ukraine, der für viele Menschen ein Schock gewesen sei. Der Kampf der Menschen in der Ukraine gegen einen militärisch übermächtigen russischen Angreifer führe der Welt "dramatisch" vor Augen, "dass Freiheit und Demokratie nicht auf ewig garantiert" seien. Allerdings habe Putins Angriffskrieg die westlichen Demokratien zusammenrücken lassen. Alle sähen sich jetzt gemeinsam vor die Aufgabe gestellt, "die eigene Verteidigungsfähigkeit und die des Bündnisses zu stärken": "Demokratien müssen wehrhaft sein", forderte Bundespräsident Steinmeier. Es sei ein Fehler, die Stärke der Demokratien zu unterschätzen. "Die Erfahrung von Unübersichtlichkeit und Unsicherheit, von Komplexität und Kontingenz, die Erfahrung, dass in unserem Leben und in unserer Welt vieles möglich, aber nichts selbstverständlich ist, diese Erfahrung ist eben gerade kein Argument gegen, sondern ein starkes Argument für die liberale Demokratie", sagte der Bundespräsident.
In einer Demokratie gäbe es das Volk immer nur im Plural, wohingegen Diktaturen nur Parteigänger und Feinde, Hörige und Ausgestoßene kennen würden. Bundespräsident Steinmeier unterstrich, dass die Demokratie nicht selbstverständlich sei. Zum Abschluss seiner Rede rief Steinmeier zu mehr Engagement der Bürgerinnen und Bürger auf, die sich nicht nur als "Staatskunden" begreifen sollen, sondern als "Staatsbürger, die sich einmischen und beteiligen und sich um mehr kümmern als nur um sich selbst."
Anschließend gedachte Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Opfern des Ukraine-Krieges und warb für mehr Wertschätzung für die Demokratie: „Immerhin ist in unseren System ausgeschlossen, dass ein Staatschef gegen die Interessen seiner eigenen Bevölkerung agiert, dass Menschen für ihre Meinungsäußerung eingesperrt werden, dass man einen Krieg vom Zaun bricht, den die eigene Bevölkerung nicht will.“ Auch Österreichs Bundespräsident betonte: „Demokratie ist anstrengend, mühsam, sie braucht Zuhören und sich Auseinandersetzen, und sie braucht ehrliche Kompromisse. Und genau deshalb sollten wir den Kompromiss nicht denunzieren als faulen Kompromiss. Denn gemeinsam Probleme zu lösen, das ist die wahre Stärke der Demokratie.“
Darüber hinaus nahm er die Auswirkungen von Desinformationen auf die Demokratie kritisch in den Blick und forderte, solche auch als Lügen zu entlarven und zu bezeichnen. Er beschrieb die den sozialen Medien zugrunde liegenden Algorithmen als Gefahr für Demokratie: "sie sind […] ein digitaler Schleier geworden, den viele von uns zwischen sich selbst und der Wirklichkeit gezogen haben. Ein Schleier, der unseren Blick auf die Wirklichkeit filtert und verändert." Es sei, so Van der Bellen, "einer liberalen Demokratie unwürdig, dass diese Algorithmen einen massiven, prägenden Einfluss – jedenfalls für viele – auf unser Alltagsbewusstsein haben, wir aber nicht wissen, wie sie konstruiert sind. Wir sehen nur die Auswirkungen, und diese legen den Schluss nahe […] hier wird mit Lügen Profit gemacht, hier werden Wahrheit und Fakten relativiert."
Die westlichen Demokratien stehen zusammen
Im Rahmen der anschließenden Diskussion wurde immer wieder deutlich, welche Herausforderungen sich durch die konkrete Bedrohung der Demokratien von innen und außen ergeben und wie diesen begegnet werden könnte.
Liz Mohn, Ehrenmitglied des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung, betonte:: "Die Gesellschaftssysteme der ganzen Welt werden sich verändern. Eine besondere Rolle kommt dabei auch der Wirtschaft zu. Wir brauchen das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft."
Wolfgang Merkel, ehemaliger Direktor der Abteilung "Demokratie und Demokratisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin betonte, dass der derzeitige Zusammenhalt des Westens durchaus gefährdet sei. Er hinge davon ab, wie lange der Krieg sich hinzöge, wie schwerwiegend die Auswirkungen seien. Früher oder später würden sich Verwerfungen in unseren Gesellschaften bemerkbar machen. Die politische Meinungsfreiheit in Demokratien erlaube eben Kritik an der Politik. Die Friktionen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus würden aufbrechen und das sei auch eine funktionale Schwäche der Demokratie. Die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer, beklagte mit Blick auf Russland, dass die Gefährlichkeit von Autokratien lange unterschätzt worden sei.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt sah die Hauptaufgabe von Demokratien in diesen Zeiten darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie eine inklusive Gesellschaft gelingen könne, während Ivan Krastev, Leiter des Center for Liberal Strategies in Sofia, forderte, dass sich die westlichen Demokratien noch klarer machen sollten, wofür sie eigentlich stünden. Sie hätten sich zu viele Illusionen über die Welt gemacht und hätten schon lange sehen können, was Putin vorhabe. Er machte deutlich: "Wir haben gar nicht verstanden, worum es hier geht. Moralische Klarheit bedeutet auch, dass man die Dinge beim Namen nennt und […] das heißt, Demokratien sind im Moment nicht gerade stark und kreativ."
Ähnlich kritisch reflektierte die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman die aktuelle Situation und warnte davor, die moralische Klarheit, die angesichts des ungeheuren Überfalls Russlands auf die Ukraine plötzlich gegeben zu sein scheine, dazu zu nutzen "erleichtert aufzuseufzen" ob der Tatsache, dass es endlich wieder Gut und Böse gäbe. "Wir sollten vor der eigenen Haustür kehren."
Einen weiteren Aspekt, der beim Verständnis der aktuellen politischen Situation hilfreich sein könnte, führte Ute Frevert an. Die Historikerin ging auf den Begriff der Nation ein, dessen Anziehungskraft und Wirkmächtigkeit gerade in der Ukraine gut zu beobachten sei: "Wir dürften nicht vergessen, dass der Begriff der Nation für viele noch immer etwas sei, das zentral identitätsbestimmend ist. Viele der Kulturkämpfe unseres eigenen Landes ließen sich auf den Niedergang des Zugehörigkeitsgefühls zurückführen."
Der Soziologe und Religionspädagoge Mouhanad Khorchide erinnerte daran, dass im Nahen Osten Demokratie vielfach als Produkt europäischer Länder und des Kolonialismus gesehen werde. Der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster bemerkte, dass die Demokratie nicht zur „exklusiven Identität eines Kontinents“ werden dürfe. Demokratische Grundwerte dürften nicht nur europäisch gedacht werden, sondern als Modell, mit dem sich möglichst alle Menschen identifizieren könnten.
Komplexität als Sollbruch-Stelle der Demokratie
Nicht nur von außen sehen sich die westlichen Demokratien derzeit in Frage gestellt. Auch in ihrem Inneren werden sie herausgefordert. Der Schriftsteller Ian McEwan bemerkte mit Blick auf die britische Gesellschaft, dass das innere Erodieren demokratischer Überzeugungen auch mit der mangelnden Teilhabe breiter Schichten der Gesellschaft zu tun habe und forderte, den Wohlstand und die Chancen besser zu verteilen: "Wenn wir uns dem nicht zuwenden, wird die Demokratie immer sehr gefährdet sein, sehr verwundbar."
Die Transformationsforscherin Maja Göpel verwies auf die nicht-staatlichen Machtstrukturen, die Demokratien ebenfalls destabilisieren könnten: "Durch die Konzentration von Macht, durch ökonomische Macht und die Art, wie wir Gesellschaften organisiert haben – durch zunehmende Finanzierung und starke Konzentration von Geld und Einflusssphären."
Die Wichtigkeit von Komplexität betonte die Schriftstellerin Thea Dorn. Sie verstünde das Bedürfnis nach Klarheit und die Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Zugleich mache ihr diese Sehnsucht Angst, denn damit habe man sich bereits auf die Kriegslogik eingelassen. Die Stärke der Demokratie sei auch ihre Schwierigkeit, sagte die Autorin und Fernseh-Moderatorin. Sie forderte dazu auf, weniger gereizt mit gesellschaftlicher und politischer Komplexität umzugehen. Denn diese Kompliziertheit sei doch der eigentliche Kern einer offenen Gesellschaft.
Maren Urner, Professorin für Medienpsychologie, erklärte, dass es vor allem drei Komponenten bräuchte, um Komplexität als einen Vorteil ansehen zu können: Zugehörigkeitsgefühl, Gewohnheiten und neue Geschichten. Wenn das Gefühl von Zugehörigkeit nicht genährt werde, entstünde Angst, genauso, wenn Gewohnheiten zusammenbrächen. Die gemeinsamen Geschichten aber wären in der Lage, uns neue Perspektiven und Ziele zu verschaffen.
Der Soziologe Hans Joas schloss an das Plädoyer Thea Dorns für einen unaufgeregten Umgang mit Komplexität und eine entsprechende kritische Haltung gegenüber vermeintlichen moralischen Gewissheiten an. Er vermisse in der Politik den Wunsch, die Gründe von Menschen zu verstehen, die sich von demokratischen Werten abwenden. Der Feststellung eines schwindenden Vertrauens in die demokratischen Institutionen müsse, so Joas, zwingend die Frage folgen: "Warum haben Menschen das Vertrauen in die Institutionen verloren? Wann?" Die Flüchtlingskrise, aber auch die Schwierigkeiten mit den Impfgegnern seien beispielhaft für eine Abkopplung der politischen und wissenschaftlichen Eliten von Teilen der Bevölkerung. Gerade in demokratischen Gesellschaften würden sich solche Unstimmigkeiten schließlich niederschlagen. Man müsse daher fragen, welche Wahrnehmung von Wissenschaft und Politik herrsche. Wie die Philosophin Susan Neiman forderte Hans Joas die westlichen Demokratien zu mehr Selbstkritik auf.
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, nahm die Ausführungen von Thea Dorn zum Anlass, noch einmal zu bestätigen, dass es zurzeit verführerisch scheine, in zu einfache Gut-Böse-Schemata zu verfallen. Zugleich sei aber auch eine Ermüdung hinsichtlich einer "postmodernen Beliebigkeit" festzustellen. Auch dieser müsse etwas entgegengesetzt werden. Grundsätzlich seien beide Wege nicht zielführend, es bräuchte vielmehr einen dritten Weg. Aus ihrer Sicht seien inhaltliche Korridore zu definieren, innerhalb derer "knackig" über "richtig und falsch" diskutiert werden müsse. Resilienz schafften wir als Gesellschaft nur, wenn wir "wehrhaft" bleiben. Dabei wünsche sie sich mehr Mut.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fügte der Debatte eine weitere Perspektive hinzu. Er wies darauf hin, dass die meisten Krisen eine rasche Fokusbildung, einen Realitätskonsens und sofortiges Handeln erforderten, dies aber in einem Spannungsverhältnis zu einer medialen Infrastruktur stehe, die auf "Konsensdiskriminierung" zulaufe. Die Herausforderung sei, so Pörksen, einen Diskursraum zu schaffen, der Ergebnisoffenheit der Debatten zulasse und nicht durch Fehlanreize, die er in Prinzipien der Überhitzung und der Aufheizung sieht, gekennzeichnet sei. Einen wichtigen Ansatzpunkt für die Stärkung der Demokratie sah Pörksen darin, die Medienkompetenz zu stärken.
Nach der dreieinhalbstündigen Debatte ergriff Alexander Van der Bellen noch einmal das Wort. Er bedankte sich für die interessante Debatte und betonte die Fähigkeiten der Menschen, ganz selbstverständlich mit Komplexität umzugehen. Gleichzeitig stehe die operative Politik oft auch vor der Aufgabe, an den Notwendigkeiten orientierte Beschlüsse zu treffen, die nicht immer allen Anforderungen an Komplexität gerecht werden könnten. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bedankte sich bei allen Beteiligten und äußerte die Hoffnung, die in der Diskussion aufgeworfenen Thesen und Fragen an anderer Stelle weiter diskutieren zu können.