"Testfall Corona – Wie geht es unserer Demokratie?"
29. Juni 2020
Wie schlägt sich unsere Demokratie bislang im Kampf gegen das Virus, wie hat sie die Einschränkungen von Freiheitsrechten verkraftet, und vor welchen Herausforderungen steht sie jetzt? Mit diesen Fragen eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das neunte "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie".
"Unsere Demokratie kann auf existenzielle Bedrohungen reagieren, und zwar schnell, entschieden und kraftvoll. Wir sind gemeinsam in der Lage, in kürzester Zeit umzusteuern, gewohnte Pfade zu verlassen und auch unter Ungewissheitsbedingungen zu entscheiden, notfalls Irrtümer einzuräumen und zu korrigieren", so der Bundespräsident.
Als Zwischenbilanz konstatierte der Bundespräsident einen gelungenen "gesellschaftlichen Kraftakt", der nicht mit starker Hand erzwungen, sondern aus Solidarität und Verantwortungsbewusstsein geleistet worden sei. Vertrauen, Vernunft, Meinungsvielfalt und Solidarität seien die Stärken unserer Demokratie, die sich in unserer gemeinsamen Reaktion auf das Virus gezeigt hätten. Gleichzeitig habe derzeit bereits eine grundlegende Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Gesellschaft begonnen, die vor allem, so Bundespräsident Steinmeier, eines bräuchte: den "Willen zum Umsteuern" für eine zukunftsfeste Europäische Union, für den Schutz von Gesundheit und Frieden, für eine zukunftsorientierte Klimapolitik und für die Schaffung von mehr globaler Gerechtigkeit. Wie die Welt nach der Coronakrise werde, sei offen; wie sie werden sollte, darüber müsse in der Demokratie gestritten und entschieden werden unter der Bedingung von Gleichheit und Freiheit.
Damit leitete der Bundespräsident die Diskussion ein, zu der er Herta Müller (Autorin und Literaturnobelpreisträgerin), Rainer Forst (Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Daniel Ziblatt (Eaton Professor of the Science of Government an der Harvard University) eingeladen hatte.
Aufgrund der Abstands- und Hygienemaßnahmen in der Corona-Pandemie fand das "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" ohne größeres Publikum im Saal statt. Die Diskussion auf dem Panel wurde um weitere Perspektiven ergänzt durch fünf zusätzliche Diskussionsteilnehmer: neben Elke Büdenbender waren Marylyn Addo (Professorin für Emerging Infections und Leiterin der Sektion Infektiologie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), Heinz Bude (Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel), Anna-Bettina Kaiser (Professorin für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts an der Humboldt-Universität zu Berlin) und Elisabeth von Thadden (Journalistin, Literaturwissenschaftlerin und Sachbuchautorin) zu Gast.
"Demokratische Interpretation statt Hygienediktat"
Die Freiheitseinschränkungen als Folge der Corona-Pandemie sollten nach Auffassung des Politologen Professor Rainer Forst möglichst in einem "Akt der Freiheit" von allen akzeptiert und nicht als "Hygienediktat" verstanden werden. Nur so würden auch alle Folgekosten als etwas gemeinsam zu Tragendes akzeptiert.
"Wir gehorchen der Angst, nicht dem Staat, das ist ein Unterschied"
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die selbst die ersten 30 Jahre ihres Lebens in der rumänischen Diktatur unter Ceausescu gelebt hat, sieht die deutsche Demokratie durch die Einschränkungen der Freiheiten der Bürger im Zuge der Pandemie nicht in Gefahr. Im Gegenteil, sie sei froh, in einer Demokratie zu leben, in der das Individuum zähle. In den vergangenen Monaten hätte sie sich stets gut informiert gefühlt: "Demokratie ist, dass wir informiert werden. Und dass wir es glauben. Und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln." Sie selbst habe in der rumänischen Diktatur das Tschernobyl-Unglück erlebt und wisse, was es bedeute, vom Staat nicht über Gefahren informiert zu werden. Mit Blick auf Verschwörungstheorien sagte sie, es sei gefährlich, etwas "zu erfinden, um das Wertvolle, das wir haben, zu beschädigen".
Nach Ansicht von Herta Müller haben die Menschen in Deutschland aus eigenen Motiven gehandelt, als sie die Kontaktbeschränkungen angenommen und umgesetzt haben. Rückblickend auf die Erfahrung, in einer Diktatur aufgewachsen zu sein, konstatierte Herta Müller: "Ich erlebe jeden Tag, dass wir eine Demokratie haben, und hoffentlich erhalten wir sie. Und ich sehe keine starken Indizien, dass diese Demokratie in eine Diktatur kippt."
"Stabile Demokratien haben die Corona-Krise gemeistert"
Auf die Frage des Bundespräsidenten, ob die Corona-Pandemie das von Daniel Ziblatt prognostizierte Sterben der Demokratien beschleunigt habe, wies der Politikprofessor an der Harvard University darauf hin, dass zwischen resilienten und nicht-resilienten Demokratien zu unterscheiden sei. Deutschland als resiliente Demokratie beispielsweise habe die Krise gemeistert und an Stabilität gewonnen. Dies treffe für andere, nicht-resiliente Demokratien wie zum Beispiel die USA und Brasilien nicht zu. Dort herrsche ein hohes Maß an Ungleichheit, und nicht funktionierende, staatliche Strukturen und die Polarisierung politischer Gegner als Feinde beschleunigten die Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie.
"Es gibt keine gesicherten Antworten der Wissenschaft"
Auf die Rolle der Wissenschaft in der Corona-Pandemie angesprochen, bekräftigte die Hamburger Professorin Marylyn Addo, dass sie sich als Virologin in der Pandemie mit vielen demokratierelevanten Fragen befasse. Das Virus sei gerade erst sechs Monate bekannt, und Evidenz, Fakten und Daten würden erst gewonnen und mit jedem Tag anwachsen. Für die Gesellschaft sei es schwer auszuhalten, dass derzeit keine gesicherten Antworten und Garantien von der Wissenschaft gegeben werden könnten. Für die Wissenschaft hingegen sei der mediale Diskurs in seiner 2 gegenwärtigen Intensität neu. Daten würden oft vorschnell, ohne qualitativ ausreichende Prüfung multipliziert und medial veröffentlicht, was die Unsicherheit zusätzlich verstärke. Hoffnungsvoll stimme sie, dass es derzeit schon viele Überlegungen und Anstrengungen gebe, den Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen über soziale und geographische Grenzen hinaus vorzusehen.
"Corona hat uns ins Mark der modernen Körpergeschichte getroffen"
Die Journalistin Elisabeth von Thadden brachte eine weitere Perspektive ein und stellte fest, wie sehr "Corona uns ins Mark der modernen Körpergeschichte getroffen hat". In der Demokratie habe der Mensch die Freiheit, anderen freiwillig nah sein zu können oder eben nicht. Was wird also aus einer Demokratie, in der wir uns wegen des Virus nicht mehr nah sein wollen? Sie führte aus, wie wichtig Berührungen für den modernen Menschen sind: "Die Berührungsforschung weiß, dass wir uns erst dann sicher und gewiss fühlen, wenn wir in körperlicher Nähe von anderen sind und deren Berührbarkeit spüren, also diese Wechselbeziehungen spüren, die zwischen uns Menschen in Stimmen, Blicken, Gestik und Körpersprache hin- und herfließen können. Das ist etwas konstitutiv Freiheitliches in lebendigen Demokratien."
Durch die Abstandsreglungen seien wir, so die Journalistin, von dieser Form der Nähe abgeschnitten worden. Elisabeth von Thadden fürchtet, dass die Menschen sich in dieser Vereinzelung einrichten, "weil wir den anderen plötzlich zu fürchten beginnen. Weil der andere plötzlich gefährlich geworden ist."
Es braucht eine "Idee glaubhafter Zukunft"
"Ist Angst eine neue Quelle der Solidarität?" fragte der Bundespräsident den Wuppertaler Soziologen Professor Heinz Bude, der dies mit der Aussage verneinte: "Wir hatten keine angstgetriebene Konformität in der deutschen Gesellschaft." Die Solidarität sei aus der Einsicht entstanden, dass man sich nur schützen könne, indem man andere schütze, dass wir verbunden seien. Allerdings tauche jetzt die Angst wieder auf, als "Angst vor dem eigenen Mut". Jetzt gehe es darum, eine "Idee glaubhafter Zukunft" zu schaffen, um eine klare Antwort auf alle Ängste und Unsicherheiten zu geben.
"Ausnahmezustand in den Formen des Rechtsstaats"
Einen Ausnahmezustand habe es ihrer Auffassung nach schon gegeben, so AnnaBettina Kaiser, Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin: "Im Sinne einer großen existenziellen Krise, auf die der Staat mit besonderen Maßnahmen reagiert hat, aber in den Formen des Rechtsstaats mit rechtlich eingehegten Maßnahmen." Zwar erlaube das Grundgesetz weitreichende Einschränkungen der Grundrechte, aber im Gegensatz zu anderen Staaten keine Suspension. Daher sei auch das Verbot der Versammlungsfreiheit unter Einhaltung der Hygienevorschriften zurückgenommen worden. Eine dauerhafte Einschränkung von Freiheitsrechten befürchte sie nicht.
"Bildungsgerechtigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für Demokratie"
In ihrer Funktion als Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung lenkte Elke Büdenbender den Blick auf Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene in Ausbildung und deren Situation in Zeiten der Corona-Krise. Auch auf die große Belastung der Familien wies die Schirmherrin hin. Die Schulschließungen während der Kontaktbeschränkungen hätten vor allem die Bildungsschere weiter geöffnet. "Wir kommen einmal mehr zu der Einsicht: Wir müssen mehr tun für Familien und Kinder, die hintendran sind." Elke Büdenbender schloss mit den Worten: "Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind eine notwendige Voraussetzung für Demokratie."