"Risse und Ressentiments – Über die Fragmentierung und Emotionalisierung von Politik und Gesellschaft"
4. Oktober 2018
Es ist mit der Politik wie in allen Bereichen des Lebens. Sie ist nicht nur Ergebnis rationaler Entscheidungen, sondern auch durch Gefühle und manchmal sogar durch "Bauchentscheidungen" geprägt. Doch Emotionalisierung oder eine Politik der Dauerempörung können Ressentiments und auch Risse innerhalb einer Gesellschaft befördern. Wie sich gesellschaftliche Spaltungen überwinden lassen und welche Rolle Gefühle in der Politik spielen, darüber diskutierte Bundespräsident Steinmeier auf dem fünften "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" mit Wissenschaftlern und Politikern.
"Einen kühlen Kopf bewahren und trotzdem nicht unterkühlt, sondern mit Leidenschaft für die Sache der Demokratie diskutieren", so formulierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn des fünften "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" eine wesentliche Herausforderung für die bevorstehende Diskussion. Der Bundespräsident hatte eingeladen, um eine "Entschlüsselung der Ressentiments" vorzunehmen, die unseren Zusammenhalt gefährden. Mit "Rissen und Ressentiments", so das Thema der Veranstaltung, war daher kurz nach dem Feiertag zur Deutschen Einheit ein aktuelles und grundlegendes Thema gesetzt, das mit den Diskutanten und Gästen intensiv debattiert wurde.
Gemeinsam mit Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Cornelia Koppetsch, Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung an der TU Darmstadt, dem Bürgermeister der Stadt Altena, Andreas Hollstein und einem Medienwissenschaftler von der Universität Tübingen, Bernhard Pörksen, ging der Bundespräsident der Frage nach, wie Politik und Gesellschaft mit Zorn und Emotionen umgehen und ideologische Mauern überwinden können.
Wie umgehen mit dem kommunikativen Klimawandel?
Gleich zu Beginn formulierte Bundespräsident Steinmeier einen Appel, der Bitte und Mahnung zu gleich war: "Lassen Sie uns die Spirale aus inszenierten Tabubrüchen und moralischer Zurechtweisung durchbrechen, um einen Raum des Nachdenkens zu schaffen". Dass dieser Raum für die nächsten zwei Stunden kein Ort des undifferenzierten Lamentierens werden sollte, machte der Bundespräsident ebenso deutlich: "Die liberale Demokratie ist ein Sehnsuchtsort für Menschen in aller Welt. Gerade diese positive Emotion gehört für mich zu einem Gespräch über Gefühle in der Politik dazu. Ich wünsche mir jedenfalls mehr demokratischen Patriotismus in diesen Zeiten!", so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier weiter. Doch wie lassen sich Menschen in einer Zeit des "kommunikativen Klimawandels", der Emotionen eher aufheizt als abkühlt, mit unterschiedlichen Meinungen wieder an einen Tisch bringen? Und wie können wir Menschen für die Demokratie begeistern, die sich zunehmend von ihr abwenden?
Dass Emotionen und Politik nicht erst seit diesem Jahr Hand in Hand gehen, und auch der Vorwurf einer bisher nicht gekannten Enthemmung der Sprache mit Vorsicht zu genießen sei, erläuterte Ute Frevert vom Max-Planck-Institut: Bereits der griechische Philosoph Aristoteles beschrieb, dass jede Form der Politik Emotionen brauche und auch "in der Weimarer Republik war die politische Stimmung deutlich aufgeheizter als heutzutage", so Frevert.
Doch anders als früher erkenne sie in den aktuellen Debatten, vor allem das Ziel zu spalten. . Auch die Umwelt- und Friedensbewegungen hätten mit der Kraft der Emotionen gegen Atomkraftwerke oder Aufrüstung protestiert. "Doch im Unterschied zu heute ging es damals weniger um eine Spaltung der Gesellschaft, als darum, eine gemeinsame Verantwortung zu konstituieren", so Frevert.
Brauchen wir neue Visionen für die Demokratie?
"Doch wie gehen die Ängste um Verluste und der Zorn auf Eliten mit der stabilen Lage von Wirtschaft und Rechtstaat einher?", wollte der Bundespräsident wissen? Warum sind populistische Strömungen gerade in europäischen Staaten wie den Niederlanden, Schweden oder auch Dänemark mit ihren ausgebauten Sozialsystemen und absolutem Reichtum so erfolgreich? Cornelia Koppetsch sprach in diesem Zusammenhang von einem "Aufstand der Etablierten". Diese seien weniger von materiellen Einbußen, als von Ängsten um schwindende Privilegien angetrieben. Die Wahrnehmung der eigenen Marginalisierung entstehe aufgrund tatsächlicher gesellschaftlicher Erfahrungen. Rückzug, Polarisierung, Wut, Abkehr vom Bewährten seien eine Folge dieser Erfahrung, ein Sekundäreffekt. Andreas Hollstein, der als Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena häufig unmittelbar mit den Emotionen von Bürgerinnen und Bürgern konfrontiert ist und 2017 sogar selbst Opfer einer Messerattacke eines aufgebrachten Bürgers wurde, appellierte, dialogbereit und verständnisvoll zu bleiben: "Die Herausforderungen der Globalisierung spüren wir direkt auf dem Land, hier muss die Politik ihre Hausaufgaben erledigen, denn viele Menschen fühlen sich vernachlässigt", so Hollstein.
Um die Bürger wieder für Demokratie und gesellschaftliche Verantwortung zu begeistern, brauche es auch positiv besetzte Visionen, mahnte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Eine Ursache in der zunehmenden Emotionalisierung gesellschaftlicher Debatten sah er in einer "neuen Gereiztheit", ausgelöst durch zu viel Nähe unterschiedlicher Lager in den sozialen Medien. "Je mehr Information verfügbar sind, desto stärker wachsen die Möglichkeiten der Desinformation", so Pörksen. Er forderte daher "neue Visionen und eine Gegenerzählung, die nicht nur aus Überschriften und rhetorischen Hüllen" bestehen dürfen, um populistischen Parolen etwas entgegenzusetzen.
Die Voraussetzungen dafür sind grundsätzlich gegeben, in diesem Punkt war sich das Podium einig. "Es gibt in unserem Land tausende Menschen, die täglich mit ihrem freiwilligen Engagement, dafür sorgen, dass das Leben auf dem Land, in Dörfern und Kleinstädten funktioniert", so Bundespräsident Steinmeier, der zum Abschluss an die Runde appellierte, diese Leistungen auch zu würdigen und wahrzunehmen. "Diese Menschen leisten mehr, als uns allen bewusst ist. Auch darüber müssen wir mehr reden in unserem Land", forderte der Bundespräsident.