"Welche Zukunft hat der Westen?"

19. September 2017

Mit einem Appell an die Bürger, sich selbstbewusst für die Demokratie einzusetzen und auch für sie zu streiten, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin seine neue Veranstaltungsreihe „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“ mit einer Rede eröffnet. Die Gesprächsreihe des Bundespräsidenten in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung widmete sich zum Auftakt der Frage: „Welche Zukunft hat der Westen?“

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach gemeinsam mit mit Herta Müller (Autorin und Literaturnobelpreisträgerin), Rainer Forst (Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Daniel Ziblatt (Eaton Professor of Science of Government an der Harvard University) über ide Herausforderungen der Corona-Pandemie für die Demokratie in Deutschland im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bewertet den Zustand der Demokratie in Deutschland grundsätzlich positiv. In seiner Eröffnungsrede zum „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“ wandte er sich ausdrücklich gegen Alarmismus. Es gebe – anders als manche behaupteten – in Deutschland keine Tabus und keine Redeverbote in der politischen Auseinandersetzung. Die Vielfalt, der Streit um Meinungen und der politische Wettbewerb gehörten zur politischen Kultur in Deutschland. Bisher habe in der Geschichte der Bundesrepublik keine Partei für sich in Anspruch genommen, im Namen des ganzen Volkes zu sprechen. „Un­sere Demokratie ist stabil“, konstatierte Bundespräsident Steinmeier.

Gleichzeitig betonte er: „Zu großer Gelassenheit besteht kein Anlass“ und verwies auf die Herausforderungen, die soziale, kulturelle und technologische Veränderungen an die Demokratie stellten. Er forderte dazu auf, „den Blick auf die tiefer liegenden Erschütterungen unserer Zeit zu richten“. Bundespräsident Steinmeier kritisierte zudem, dass Politiker im Wahlkampf lautstark beschimpft oder sogar beworfen werden und verurteilte jegliche Versuche, im Wahlkampf ein Klima der Einschüchterung zu schaffen: „Tomaten und Trillerpfeifen sind im demokratischen Diskurs kein Mittel zu höherer Erkenntnis, und Ohrenschmerzen kein Ausweis einer geglückten Kontroverse“, so der Bundespräsident. Zugleich rief er dazu auf, nach den Ursachen zu forschen und zu fragen, warum sich Menschen in Deutschland nicht vertreten fühlen oder daran zweifeln, ob „unser Staat die wirklich brennenden Probleme lösen kann". 

Bundespräsident Steinmeier warf populistischen Kräften vor, sich Ängste und Enttäuschungen vieler Menschen zunutze machen zu wollen. Alle Demokraten im Land müssten dem etwas entgegensetzen, indem sie sich selbstbewusst um die Demokratie kümmerten und wieder für sie stritten. Denn der Blick in viele andere Länder auch in Europa zeige, dass Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte keine Selbstverständlichkeiten seien. „Manche Gesellschaften erscheinen wie infiziert vom Fieber des Autoritären“, sagte der Bundespräsident.

Das liberale Demokratiemodell müsse deshalb mit Überzeugung verteidigt werden. Demokratie sei kein Heilsversprechen, sie gebe keine endgültigen Antworten. „Demokratie ist ein politischer Lernprozess“, sagte Bundespräsident Steinmeier, und genau darin liege in Zeiten des Wandels ihre „Stärke, an die auch ich glaube“.

Mit der Diskussionsreihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" will der Bundespräsident zur Verteidigung unserer offenen, demokratischen Gesellschaft beitragen. Zum Auftakt unter dem Titel „Welche Zukunft hat der Westen?“ waren die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman, der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna und der Historiker Heinrich August Winkler eingeladen.

Winkler, Autor der mehrbändigen „Geschichte des Westens“, erinnerte an den schwierigen und langen Weg Deutschlands nach 1945 im Westen anzukommen. Er zeigte sich besorgt über die Zukunft der westlichen Wertegemeinschaft. Vor allem die Europäische Union könne dauerhaft ein Miteinander liberaler und illiberaler Demokratien, als die Ungarn und Polen sich selbst bezeichnen, nicht aushalten. 

Dem gegenüber setzte Khanna seine Idee einer direkten Technokratie, die sich weniger durch demokratische Kompromissfindung als durch eine an Sachentscheidungen orientierte Leistungsfähigkeit des Staates im Sinne des Gemeinwohls auszeichne. Dadurch könne einer Entfremdung von Politik und Bürgern entgegengewirkt werden.

Susan Neiman betonte, ein Staat sei kein Unternehmen. In einer westlichen Demokratie gebe es neben Wohlstand und Effizienz andere wichtige Werte, zum Beispiel die Kultur. Zur Frage nach der US-amerikanischen Sicht auf den Westen, wies Neiman – mit Blick auf die derzeitige US-Administration – darauf hin, dass die USA gesellschaftlich und politisch vielfältig seien.

Im November spricht der Bundespräsident unter anderem mit Salman Rushdie über das aufklärerische Potenzial der Literatur und über die Verteidigung der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gegen Fanatismus und anti-intellektuelle Ressentiments.

Steinmeier dankte in seiner Rede der Bertelsmann Stiftung für ihre Unterstützung und wandte sich direkt an Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung: „Ohne Sie, ohne insbesondere Ihr persönliches Engagement, liebe Frau Mohn, hätten wir diese Gesprächsreihe nicht so umfassend anlegen können.“

Das Video dieser Veranstaltung finden Sie hier.

Die Rede des Bundespräsidenten zur Veranstaltung finden Sie hier. (pdf).