"Welche Zukunft? Über Demokratie und Fortschritt"
25. November 2019
Was bedeutet Fortschritt in unserer Gesellschaft und was sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, innovative und gute Lösungen als Antwort auf drängende und komplexe Herausforderungen wie die Digitalisierung, die Globalisierung und den Klimawandel zu finden. Darüber sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seinen Gästen beim achten "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie".
Beim Thema Zukunft richtet sich der Blick nach vorn, allerdings sei von dem dafür erforderlichen "Selbstvertrauen, von Mut und Zuversicht" momentan in Deutschland nicht ausreichend viel zu spüren. "Ganz im Gegenteil, viele Menschen schauen mit großer Sorge nach vorn. Klimawandel, digitale Revolution und Globalisierung, Spannungen und Konflikte auf vielen Kontinenten, alles das trägt zur Verunsicherung bei", so Steinmeier. Woran das liegt und wie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Fortschritt zum Vorteil für möglichst viele Menschen wiedergewonnen und gestärkt werden kann, dazu diskutierte der Bundespräsident beim achten "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" mit seinen Podiumsgästen und dem Publikum.
Als Diskutanten hatte der Bundespräsident die deutsche Medienpsychologin Maren Urner (Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln), den britischen Schriftsteller Ian McEwan und den US-amerikanisch-kanadischen Kognitionswissenschaftler und Linguisten (Steven Pinker (Harvard University) eingeladen.
Wahrnehmung statt Fakten: Was fasziniert die Menschen an "schlechten Nachrichten"?
Die gesamte Diskussion war begleitet von der Frage, warum wir Menschen negative Eindrücke stärker wahrnehmen als positive.
"Auf uns prasseln täglich zu viele negative Nachrichten ein" so die Medienpsychologin Maren Urner. Jedoch liege die Fokussierung auf das Negative auch in der menschlichen Natur: "Wir nehmen singuläre, negativen Ereignisse, die nicht die Mehrheit des Weltgeschehens ausmachen, stärker wahr als positive Nachrichten". Das liege an den mehrheitlich negativ geprägten Nachrichten, aber auch am menschlichen "Steinzeit-Gehirn", das für das menschliche Überleben stärker auf Gefahren ausgerichtet sei. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist damit höher bei negativen Nachrichten. Evolutionsbiologisch sei dies ein sinnvoller Schutzmechanismus, in anderen Zusammenhängen könne die so gesteuerte Wahrnehmung hingegen zu Überforderung und in der Folge zu Passivität führen. "Wenn sich Menschen vom Weltgeschehen, aus Furcht oder Selbstschutz, immer stärker abwenden, schadet es langfristig auch der Demokratie", schlussfolgerte Urner.
Dadurch erodiere langfristig gesehen das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen. Eine so beförderte Abwendung von der Demokratie dürfe man nicht zulassen, da waren sich alle einig. Der Bundespräsident wies auf das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Studie hin: "Immer weniger Menschen halten unser politisches System für eine besondere Stärke unseres Landes. Nicht einmal die Hälfte der Befragten traut unserem Staat zu, handlungsfähig zu sein." Dabei sei es genau andersherum: "Nur die Demokratie", so der Bundespräsident, "gibt uns die Möglichkeit zur Selbstkorrektur", und sei daher die "Staatsform der Mutigen". Denn wer sich ohnmächtig fühle, könne nicht mitreden, nicht entscheiden, nicht verändern, so der Bundespräsident.
Das unterstrich auch Steven Pinker, der in seinen Beiträgen mehrere leidenschaftliche und zugleich faktenreiche Plädoyers für die Demokratie hielt. Im Vergleich mit Autokratien, das zeigten alle Daten, würden die Menschen in Demokratien deutlich gesünder leben, mehr Freiheit und Wohlstand genießen, so Pinker. Auch die Erzählung über ein langsames Sterben der Demokratien, konnte er nicht bestätigen: "Wir konzentrieren uns zu häufig auf die negativen Beispiele in Russland oder der Türkei", wo demokratische Institutionen zurückgebaut werden. Dabei, so der Harvard-Professor, verlören wir die zahlreichen positiven Beispiele wie Nigeria, Tunesien, Äthiopien oder Armenien aus dem Blick, wo die Demokratie in den letzten Jahren enorme Fortschritte erreicht habe, so Pinker, auch wenn diese Prozesse nicht immer linear verliefen.
Untergangsstimmung trotz Wohlstand: Das Paradox der Demokratie
Das trotzdem ein zunehmendes Misstrauen gegenüber Demokratien und der politischen Institutionen und ihrer Repräsentanten herrsche, sei mit Blick auf die Daten geradezu paradox, jedoch mit Blick auf die Natur des Menschen womöglich erklärbar. Sie halte davon ab, rein rationale Entscheidungen zu treffen. Außerdem weise die Demokratie selbst Probleme auf, z. B. die zeitliche Befristung von Ämtern und letztlich auch die Wähler selbst. "Es gebe schon in den Schriften von Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Hinweise, dass die Bürger weniger Intellektuelle, sondern Personen in politische Ämter wählen, denen sie sich nah und verbunden fühlen können", so Ian McEwan. Das führe nicht immer zur Auswahl des oder der Besten für ein Amt. Auch das Phänomen der "low information voters", die teilweise aufgrund fehlender Informationen gegen ihre wirtschaftlichen oder sozialen Interessen wählten, verstärke Akzeptanzprobleme in Demokratien, so McEwan. Jedoch, so warf Steven Pinker ein, gebe es allgemein kein hundertprozentig perfektes System, das gleichermaßen fair, effizient oder freiheitsstiftend für alle sei. Mögliche Alternativen wie Autokratien seien immer und in jeder Hinsicht die schlechtere Wahl für alle Menschen.
Steinmeier zur Lage der Demokratie: "Wir müssen viel, aber wir können auch viel"
Neben der Bestandsaufnahme skizzierten die Podiumsteilnehmer auch konstruktive Lösungen für die Zukunft der Demokratie. Zum einen, so betonte Ian McEwan, biete die Demokratie Möglichkeiten, die Bürger direkter in politische Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden, um damit am Ende eine stärkere Akzeptanz und Anerkennung politischer Kompromisse und Entscheidungen zu fördern. Das Beispiel Irland, wo im Jahr 2018 unter anderem durch die Einbindung der Bürger ein striktes Abtreibungsverbot verhindert wurde, sei eines der prominentesten Beispiele für den Erfolg sogenannter "deliberativer Demokratiemodelle".
Pinker wies erneut darauf hin, dass der allgemeine Trend – auch empirisch – zu Liberalisierung und Demokratisierung gehe. Dort wo das Vertrauen erodiere, müssten die Menschen erinnert werden an die negativen Gegenbeispiele.
Einen weiteren Lösungsansatz führte Maren Urner aus: der den "konstruktiven Journalismus". Redaktionen sollten nicht nur eine Bestandsaufnahme des täglichen Scheiterns, sondern auch konkrete Lösungsansätze liefern, wie es besser gehen könne. Die Bereitschaft für einen Journalismus zu zahlen, der nicht nur berichtet, sondern auch qualitativ einordne und kommentiere, sei auf jeden Fall gegeben, so die Professorin.
So könnte auch der Blick nach vorn wieder positiv besetzt werden. "Wir müssen viel – aber wir können auch viel", das sollte laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unser Grundgefühl in der und für die Demokratie sein. "Nicht dass es schlimmer werden kann, sondern dass wir es besser machen können, darauf sollten wir unsere Kraft konzentrieren", fasste der Bundespräsident seine Hoffnungen für die Zukunft der Demokratie zusammen.